Kategorie: Allgemein

Die Statistiken

Richtig gelesen – Statistiken. Über Ost/West-Journalist:innen. Die gab es bislang nicht. Bislang blieb alles auf der Ebene des Diskurses, dem Fingerzeig auf blinde Flecken, auf der Basis eines Gefühls, für die einen klarer, für die anderen diffuser.

Klar, es gibt Erhebungen über den Anteil an ostdeutschen Führungskräften und Hochschulrektoren, es gibt semantische Untersuchungen zu den Themenfeldern, über die im Zusammenhang mit Ostdeutschland berichtet wird, oder darüber, wie stark man sich als west- bzw. ostdeutsch identifiziert, was als trennend empfunden wird – sowohl allgemein als auch mit Fokus auf die Nachwendegeneration. Und zumindest Indizien, dass das Empfinden, nicht gemeint oder nur „mitgemeint“ zu sein in vielen journalistischen Veröffentlichungen, zu einer teilweisen Entfremdung des ostdeutschen Publikums gegenüber „den Medien“ führt.

Darum habe ich einfach mal angefangen – fürs „Medium Magazin“ fragte ich bei den großen deutschen Journalistenschulen nach und in Regionalmedienhäusern in den ostdeutschen Bundesländern. Die Ergebnisse sind ernüchternd.

Besonders unter den jüngeren in Ostdeutschland geborenen Journalist:innen wird derzeit sichtbar: Das Rumoren wird spürbar lauter. Doch wie stark sind sie in der Branche überhaupt vertreten? Die Zahlen, die die Journalistenschulen auf unsere Bitte zusammengestellt haben von 1991 bis heute, sind ernüchternd: Auf 45 oder 18 oder 30 Westdeutsche (bzw. Nicht-Ostdeutsche) kommen mal null, mal einer, mal zwei Ostdeutsche.

Hier die Zahlen – Obacht, ist ein Riemen, drunter geht’s weiter:

 

Der Familienvermögensunterschied zwischen Ost und West dürfte ein wesentlicher Grund für das Gefälle sein. SWR-Kollegin Katharina Thoms („Mensch Mutta„) und Marie Sophie Schiller („Ost – eine Anleitung„) erzählen beide, wie sie irgendwann verwundert feststellten, dass es bei anderen ihrer Generation aus dem Westen nicht selbstverständlich gewesen sei, nach der Schule finanziell auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Ex-Krautreporter und Neu-Zeit-Ost-Redakteur Josa Mania-Schlegel (#wirsindderosten) sagt, sein Einstieg in die Branche sei nur möglich gewesen “weil mir mein West-Opa eine Art Praktikumsgehalt gezahlt hat”.

Wenn man bedenkt, dass die Journalistenschul-Absolvent:innen eher in die großen überregionalen Redaktionen gespült werden, sollte das Zahlenverhältnis oben nachdenklich stimmen.

Und dann sind da noch die regionalen Medienhäuser der ostdeutschen Länder. Auch hier ist seit der Wende Luft nach oben, wie unsere Umfrage zeigt. Die Chefredakteure, die von den gut 30 angefragten Zahlenmaterial beisteuerten, betonen, dass es vor allem um Regionalkompetenz gehe – weniger um Ost/West. Aber: “Es gibt nach wie vor in Ost und West unterschiedliche Interessen an bestimmten Themen“, sagt etwa Hartmut Augustin von der Mitteldeutschen Zeitung. „Das richtig einzuschätzen und in der journalistischen Praxis dann umzusetzen, erfordert schon eine besondere Expertise.

Hier die Übersicht, geordnet nach Hierarchieebenen:

 

Dieser Anspruch ähnelt der Motivation, mit der Marie-Sophie Schiller ihren Interviewpodcast betreibt: Im besten Fall wolle sie westdeutsche Journalistinnen, Multiplikatoren, Entscheider sensibilisieren. “Ich bin mir nicht sicher, dass heute irgendwer die ganze Tragweite abschätzen kann, was in den letzten 30 Jahren passiert ist”, sagt sie. “Und ich glaube nicht, dass die Dimension dessen bislang hinreichend erklärt ist.” Vor allem aber wolle sie verhindern, “dass der Osten nach den Landtagswahlen und den Jubiläumstagen wieder vom Radar verschwindet”.

Fangen wir also an.
Zählen wir mal durch.
Und tauschen uns aus, buchstäblich.

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Nun, da die doppelte Jubiläumsfeierei zu 30 Jahren Ost/West rum sind, und damit die geballte Ladung Aufmerksamkeit, lichtet sich die Lage: So viel von all den Stücken, Beiträgen, Schnipseln ist irgendwo, klar, wissen wir ja.

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Sex hilft beim Lückenschluss

Der Titel ist auf Krawall gebürstet, aber das Buch erhellt die Debatten unserer Zeit: “Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben” der US-Anthropologin Kristen R. Ghodsee hilft Westlern, den Frauenalltag in der DDR besser verstehen. Und zeigt, wie #metoo und Bernie Sanders zusammenhängen.

“Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein”, heißt es am Anfang des Texts. Weil hier wie da: “ökonomische Abhängigkeit”. Und dann schimpft der Autor noch über die “philiströse Beschränktheit” jener Männer, die behaupten, “es gebe keine Frauenfrage”.

“Die Frau und der Sozialismus” heißt das Buch, aus dem die Zitate stammen – und der, der hier Feminismus und Erwerbsarbeit zusammendenkt, ist der Mitgründer der deutschen Sozialdemokratie August Bebel. Sein Manifest, das ihm heute häufig den Zusatz “erster deutscher Feminist” einbringt, erschien 1879.

Nun, 140 Jahre später, legte die US-Kulturanthropologin Kristen R. Ghodsee so etwas wie die Fortsetzung vor – für unsere Gegenwart. Auch wenn es bei einer US-Autorin verblüffen mag, Ghodsees Innenperspektive ist gründlich: Als der Eiserne Vorhang fiel, war sie 20, reiste durch Europa – und blieb. Seither forscht sie zu sozialistischem Alltag, hat lange in Bulgarien, wiederholt in Ostdeutschland gelebt und gearbeitet. Auch deshalb schlägt sie so gelungen den Bogen von der Russischen Revolution 1917 bis zu den Millenials heute, vom Staatssozialismus nach Ostblock-Bauart (“Den möchte wirklich keiner zurück”, sagte sie im Gespräch) bis zu sozialistischen Politikideen von Bernie Sanders, AOC oder Kevin Kühnert.

Feministischer Gegenentwurf zum Kapitalismus

Sicher, der Titel “Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben” ist auf Maximalwirkung gebürstet – und die Überschrift des Meinungsstücks, das sie 2017 für die NYT geschrieben hatte. Der Gedanke, dass Abhängigsein und Freiheit auch in Partnerschaften ihre Wirkung haben, mag banal klingen – und allen! zugute kommen – aber Ghodsee liefert weit mehr als das: einen feministischen Gegenentwurf zum Kapitalismus.

Ihr Buch könnte zeitlich nicht besser passen, aus mehreren Gründen. Denn auch wenn sie eigentlich eine andere – sprich: US-amerikanische – Zielgruppe im Blick hat: Das Buch taugt 1a für die Debatte hierzulande und damit: dezidiert für Westdeutsche. Als überfälliger Lückenschluss. Um nach 30 Jahren endlich den Blick zu weiten auf sozialistische Perspektiven und jenen deutschen Frauenalltag, der parallel existierte und weiter existiert. Und der dennoch für alle, die westdeutsch sozialisiert sind, offenbar so fremd bleibt, dass bei Debatten um Abtreibungsparagraphen und #metoo immer wieder Menschen die Hand heben müssen, um der westdeutschen Story etwas entgegen zu setzen. Um mal eben zu erklären, wie selbstverständlich die Selbstbestimmung der Frauen in der DDR war. Über ihren Körper, ihren Beruf, ihr Konto, ihr Familienleben. Kein Staat, kein Gatte, der ihnen qua Gesetz reinquatschen durfte.

Warum die Jüngeren den Sozialismus neu entdecken

Ghodsee erhellt diese blinden Flecken. Und benennt auch die Diskrepanz zwischen sozialisistischer Utopie, gelebtem Alltag und der Frustration vieler Frauen: Ihre Erwerbstätigkeit mag zwar normal gewesen sein, die Emanzipation der Männer aber fehlte oft; in der DDR, schreibt sie, gab es in den 1950ern gar “gezielte Bemühungen”, Männer zu mehr Care-Arbeit zu ermuntern. Dazwischen stellt sie die russische Revolutionärin und Feministin Alexandra Kollontai vor oder Studien polnischer wie amerikanischer Soziologinnen über Hausarbeit, Kita-Plätze, Scheidungsraten vor 1990 und danach. Und dank ihres essayistischen Stils ist nichts davon so trocken wie es klingen mag.

Zudem verbindet Ghodsee mit diesem Buch endlich jene Bewegungen, die derzeit weltweit Machthierarchien in Frage stellen – #metoo und die Neudefinition oder, je nach Geschmack, “Neuentdeckung” des Sozialismus. Hier wie dort geht es um Autonomie in einer kapitalistisch geprägten Lebens- und Arbeitswelt. In Partnerschaften, so Ghodsee, müssen “emotionaler Gewinn und finanzieller Wert” entkoppelt sein, damit jene erst frei sein können. Erinnert an Eva Illouz, ist aber radikaler, weil sexualökonomisch und damit strikt politisch.

Und mit Blick auf das Sozialismus-Faible der Jüngeren, für die der Begriff “Millenial Socialism” geprägt wurde, und die den Kalten Krieg nie erlebt haben: Gebeutelt von der neoliberalen Arbeitswelt sehnen sie sich nach sozialistischen Selbstverständlichkeiten wie Krankenversicherung, Elternzeit, Kitaplätzen, so Ghodsee. Weiter gedreht: Viele nehmen das Wort Sozialismus vielleicht nicht mal in den Mund. Aber dass sie sich statt Boni flexible Arbeitszeiten, flache Hierarchien, Autonomie wünschen, sind Ausdruck der gleichen Idee.

Egal wer unter “Sozialismus” was versteht und missversteht, was Ghodsee auch alles aufdröselt: Das Buch wirkt wie ein Versuch, dem Wort den Malus zu nehmen. Es nervt sie sichtlich, dass gängige Assoziationen nach Kalter-Krieg-Rhetorik riechen, vulgo: Gulag, Hunger, Stasi, Totalitarismus. Und so plädiert sie überzeugend dafür, der Idee des Sozialismus das gleiche zu gönnen wie landläufig dem Kapitalismus: die miesen Nebeneffekte nicht pars pro toto zu setzen.

Auch angesichts hiesiger Rote-Socken-Kampagnen – man denke an die Thüringer Wahlergebnisdebatte, schon vor der MP-Wahl – lohnt es sich, Ghodsees freundlicher Einladung zu folgen, sich die alten Gedanken neu anzuschauen: “Zwei sozialistische Ideen, die wir erhalten sollten, sind die Betonung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen und die Idee, dass Liebesbeziehungen frei von finanziellen Überlegungen sein sollten.” Guter Sex für alle – wer sagt dazu schon Nein.

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DAS BUCH
Kristen R. Ghodsee: “Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben. Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit”, aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Richard Barth, Suhrkamp 2019, 277 Seiten, 18 Euro.

ZUR PERSON
Kristen R. Ghodsee (*1970) hat eine Professur für Russland- und Osteuropastudien an der Universität Pennsylvania inne. Sie hat schon mehrere Bücher über den Alltag im Post-Sozialismus veröffentlicht und hat einen Podcast, in dem sie die Texte der russischen sozialistischen Frauenaktivistin Alexandra Kollontai vorstellt.