Autor: ownsx

Darum geht’s

Hier wird eine Arbeitsplatztausch-Plattform entstehen – für Journalist:innen im Überregionalen und Regionalen, für Kolleg:innen von Radio, TV, Print und Online: zwischen Ost und West.

Biete drei Wochen „Stern“, biete zwei Wochen, zwei Monate Freie Presse, SWR, Dresdner Neueste Nachrichten, Badische Neueste Nachrichten
– suche zwei Wochen, zwei Monate, drei Wochen Super-Illu, MDR-Thüringen, Rheinpfalz, WDR2, Märkische Oderzeitung. Ein Prinzip bekannt von Kleinanzeigen und Betten- und Zimmerbörsen.

Darum geht’s hier auf der Seite von ostwestnordsuedx.
Aber auch im begleitenden Newsletter ownsx, der alle 14 Tage montags erscheint.

(Der eigentliche physische Austausch lag nun wegen Corona auf Eis; aber im Hintergrund laufen derzeit neue Dinge für den Austausch, ich halte Sie hier auf dem Laufenden.)

Für den Austausch mit Kolleg:innen in Ost-West-Nord-Süd können Sie sich hier eintragen – und wenn daraus erst einmal Gastbeiträge zwischen Redaktionen entstehen.

Aber eigentlich, dahinter, geht es:

Um das hier:
Ein Text über die Geschichte von Frauenrechten in Deutschland – ohne die DDR-Seite mitzuerzählen. Berichte über die Einführung der Masernimpfung in Deutschland – ohne zu erwähnen, wann man damit in der DDR begann (1970). Eine Feuilletondebatte über rassistische Sprache in Kinder- und Jugendbüchern – ohne in Betracht zu ziehen, dass die Werke von Otfried Preußler und größtenteils auch Astrid Lindgren bis 1989 nur in Westdeutschland zum Kanon gehörten.

Und das hier:
„Wir sind echt spät dran“, sagte Zeit-Ost-Korrespondent Martin Machowecz am Abend der Landtagswahl in Brandenburg und Sachsen in der Runde bei Anne Will: 28 Jahre habe man gar nicht darüber geredet, warum sich so viele Ostdeutsche „abgehängt“ und nicht „als Teil der Diskurse“ fühlten. Will hakte nach, „die Ostdeutschen“, damit bürste man doch alle über einen Kamm, oder?

Auch um das hier:
Wie verbreitet der Blick ist, den Will zitiert, zeigt eine Analyse des Kommunikationsforschers Johannes Hillje auf Zeit Online, der feststellte, dass der Begriff „Ostdeutschland“ in den letzten fünf Jahren mehr als zweimal so oft (knapp 104.000) in deutschen Medien auftauchte wie „Westdeutschland“ (knapp 50.000): „Dieses geografische Framing der politischen Berichterstattung reproduziert ein Stück weit die Teilung des Landes. Und zwar jeden Tag aufs Neue“, stellt Hillje fest und diagnostiziert bei der Berichterstattung „Ostalismus“. Dazu die eindimensional negativ konnotierte Berichterstattung über “Ostdeutschland” – laut einer MDR-Studie von 2019 ab 2004 mehrheitlich in Verbindung mit dem Begriff “Armut”, aktuell mit “abgehängt”.

Und das:
Die Debatte um ein jüngeres Spiegel-Cover, ein Anglerhut in schwarz-rot-gold, Schlagzeile: “So isser, der Ossi”, ein Verweis auf den “Hutbürger” (Sommer 2018, Demonstration in Dresden, ZDF-Drehverbot, man erinnert sich). Und der Kommentar zur Debatte, hinterher: “Wer seine Heimat liebt, der kann doch gelassen bleiben.” Hier Bayern also, ein Bundesland, dort “der Osten” so differenziert wie eine homogene Landmasse. Dazu ist das Klischee bayerischer Gemütlichkeit nun einmal deutlich anders als „Abgehängtsein“.

Kurz:
Um noch einmal auf den Satz von Zeit-Kollege Machowecz zu sprechen zu kommen: Es gibt also inzwischen ein Ost/West-Gespräch – aber: Wer spricht hier wie über wen? Und von welchem „wir“ aus? Wer dominiert das Gespräch?

Das Nachdenken über Ost/West-Journalismus ist überfällig – und dann auch zu handeln. Ein ganz echter Ost/West-Arbeitsplatztausch ist eine erste niedrigschwellige Lösung. Denn was für manche Redakteur*innen nur Details sind, steht für eine mehrfache Ungleichheit: Ostdeutsche und ostdeutsche Themen sind in überregionaler Berichterstattung oft nur „mitgemeint“. Weil diejenigen, die diese Perspektiven einbringen und damit für gesamtdeutsche Diversität in den Medien sorgen könnten, in den entscheidenden Redaktionen oft nicht ausreichend vertreten sind (erste Zahlen dazu habe ich für Medium Magazin 04/2019 erhoben – bald auch hier zu sehen).

Neben der Tauschplattform, die hier entstehen wird, soll diese Seite auch eine inhaltliche Plattform bieten: um endlich – etwa auf dem Twitter-Kanal von ownsx – die vielen Beiträge und Debattenstücke zu bündeln, die darüber nachdenken, wie gesellschaftliche Diversität, Chancengleichheit und (mediale) Repräsentanz bei Ost/West-Journalismus zusammenhängen.

Drei Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervereinigung ist das „echt spät dran“ – aber jetzt ist immer früh genug, etwas daran zu ändern.

Macht mit.
Es tut uns allen gut.

Oder sonst was loswerden? Dann hier entlang.

Die Statistiken

Richtig gelesen – Statistiken. Über Ost/West-Journalist:innen. Die gab es bislang nicht. Bislang blieb alles auf der Ebene des Diskurses, dem Fingerzeig auf blinde Flecken, auf der Basis eines Gefühls, für die einen klarer, für die anderen diffuser.

Klar, es gibt Erhebungen über den Anteil an ostdeutschen Führungskräften und Hochschulrektoren, es gibt semantische Untersuchungen zu den Themenfeldern, über die im Zusammenhang mit Ostdeutschland berichtet wird, oder darüber, wie stark man sich als west- bzw. ostdeutsch identifiziert, was als trennend empfunden wird – sowohl allgemein als auch mit Fokus auf die Nachwendegeneration. Und zumindest Indizien, dass das Empfinden, nicht gemeint oder nur „mitgemeint“ zu sein in vielen journalistischen Veröffentlichungen, zu einer teilweisen Entfremdung des ostdeutschen Publikums gegenüber „den Medien“ führt.

Darum habe ich einfach mal angefangen – fürs „Medium Magazin“ fragte ich bei den großen deutschen Journalistenschulen nach und in Regionalmedienhäusern in den ostdeutschen Bundesländern. Die Ergebnisse sind ernüchternd.

Besonders unter den jüngeren in Ostdeutschland geborenen Journalist:innen wird derzeit sichtbar: Das Rumoren wird spürbar lauter. Doch wie stark sind sie in der Branche überhaupt vertreten? Die Zahlen, die die Journalistenschulen auf unsere Bitte zusammengestellt haben von 1991 bis heute, sind ernüchternd: Auf 45 oder 18 oder 30 Westdeutsche (bzw. Nicht-Ostdeutsche) kommen mal null, mal einer, mal zwei Ostdeutsche.

Hier die Zahlen – Obacht, ist ein Riemen, drunter geht’s weiter:

 

Der Familienvermögensunterschied zwischen Ost und West dürfte ein wesentlicher Grund für das Gefälle sein. SWR-Kollegin Katharina Thoms („Mensch Mutta„) und Marie Sophie Schiller („Ost – eine Anleitung„) erzählen beide, wie sie irgendwann verwundert feststellten, dass es bei anderen ihrer Generation aus dem Westen nicht selbstverständlich gewesen sei, nach der Schule finanziell auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Ex-Krautreporter und Neu-Zeit-Ost-Redakteur Josa Mania-Schlegel (#wirsindderosten) sagt, sein Einstieg in die Branche sei nur möglich gewesen “weil mir mein West-Opa eine Art Praktikumsgehalt gezahlt hat”.

Wenn man bedenkt, dass die Journalistenschul-Absolvent:innen eher in die großen überregionalen Redaktionen gespült werden, sollte das Zahlenverhältnis oben nachdenklich stimmen.

Und dann sind da noch die regionalen Medienhäuser der ostdeutschen Länder. Auch hier ist seit der Wende Luft nach oben, wie unsere Umfrage zeigt. Die Chefredakteure, die von den gut 30 angefragten Zahlenmaterial beisteuerten, betonen, dass es vor allem um Regionalkompetenz gehe – weniger um Ost/West. Aber: “Es gibt nach wie vor in Ost und West unterschiedliche Interessen an bestimmten Themen“, sagt etwa Hartmut Augustin von der Mitteldeutschen Zeitung. „Das richtig einzuschätzen und in der journalistischen Praxis dann umzusetzen, erfordert schon eine besondere Expertise.

Hier die Übersicht, geordnet nach Hierarchieebenen:

 

Dieser Anspruch ähnelt der Motivation, mit der Marie-Sophie Schiller ihren Interviewpodcast betreibt: Im besten Fall wolle sie westdeutsche Journalistinnen, Multiplikatoren, Entscheider sensibilisieren. “Ich bin mir nicht sicher, dass heute irgendwer die ganze Tragweite abschätzen kann, was in den letzten 30 Jahren passiert ist”, sagt sie. “Und ich glaube nicht, dass die Dimension dessen bislang hinreichend erklärt ist.” Vor allem aber wolle sie verhindern, “dass der Osten nach den Landtagswahlen und den Jubiläumstagen wieder vom Radar verschwindet”.

Fangen wir also an.
Zählen wir mal durch.
Und tauschen uns aus, buchstäblich.

Es tut uns allen gut.

Der Newsletter

Wir teilen etwas bei Twitter, schicken es anderen per Email oder DM, bookmarken es uns für später – und doch: Es fließt davon. Texte, Radiointerviews, Filmtrailer, Podcastfolgen über Ost/West-Blicke, neue Debatten, neue Facetten.

Nun, da die doppelte Jubiläumsfeierei zu 30 Jahren Ost/West rum sind, und damit die geballte Ladung Aufmerksamkeit, lichtet sich die Lage: So viel von all den Stücken, Beiträgen, Schnipseln ist irgendwo, klar, wissen wir ja.

Aber nicht an einem Ort, gebündelt.

Der Newsletter von ownsx will genau das sein: ein Ort, an dem alle zwei Wochen Dinge zum Thema zusammen gebracht werden. So zum Überblick zwischendurch. Querbeet, von überall. Als eine Art temporäres Archiv.

Hier können Sie in alle bisherigen Folgen reinlesen – und natürlich auch abonnieren.

Hamwa was vergessen? Soll was Bestimmtes mit rein?
Dann los: mail @ ostwestnordsuedx.de

Der erste Tausch: SäZ x Chrismon

Zwei Redakteurinnen, zwei Perspektiven: Anne Buhrfeind von „Chrismon“ und Dominique Bielmeier von der „Sächsischen Zeitung“ machten im Februar 2019 einen Ost/West-Austausch (und bloggen seither hier darüber). Damit fing alles an: Es war der erste Ost/West-Arbeitsplatztausch – und nachdem ich die beiden fürs „Medium Magazin“ interviewt hatte, war mir klar, diese Chance sollen auch andere haben, eine Tauschplattform muss her.

Denn genau das war es: ganz niedrigschwellig, unkompliziert, eine fast spontane Idee der beiden Chefredakteur:innen Uwe Vetterick (SäZ) und Ursula Ott (Chrismon). Ein paar Wochen nach dem ersten Gedanken traten die Redakteurinnen die Reise an: die eine von Ost nach West, die andere von West nach Ost. Hier erzählen sie, wie’s war:

Sie haben drei Wochen lang ihre Arbeitsplätze gewechselt: Frau Buhrfeind war in der Lokalredaktion der “Sächsischen Zeitung” in Meißen, Frau Bielmeier in Frankfurt bei “Chrismon”. Was war der Auslöser für das Projekt?
Anne Buhrfeind: Wir hatten in „Chrismon“ eine Geschichte über 100 Jahre Frauenwahlrecht – und daraufhin schrieben uns zwei Leserinnen empört, dass die DDR nicht darin vorkäme. Das erzählte unsere Chefredakteurin Ursula Ott bei einer Verstanstaltung dem Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“ Uwe Vetterick. Darauf entschieden sie, einen „Schüleraustausch“ zu organisieren. Das war im November. Im Februar ging es los, für drei Wochen. Ich glaube, beide waren überrascht, dass es so schnell klappte.

Wie reagierten Sie auf die Briefe?
Buhrfeind: Wir waren überrascht, dass uns das nicht selbst aufgefallen war. Wir sind danach zwar zur Tagesordnung übergegangen, aber dieser Fall war ein Indiz, dass wir die Geschichte des Ostens, der DDR nicht im Blick haben. Auch weil wir im Westen viel mehr Leser haben als im Osten; auch weil die Kirche mehr Mitglieder im Westen als im Osten hat.

Frau Bielmeier, verstehen Sie die Reaktion der Leserinnen?
Dominique Bielmeier: Aus ostdeutscher Sicht schon, ja. Es geht mir und auch meinen Kollegen häufig so, dass wir bei Texten überregionaler Medien das Gefühl bekommen, der Osten ist gar nicht mitgedacht.

Die Erst-Tauscherinnen Anne Buhrfeind (Chrismon) und Dominique Bielmeier (Sächsische Zeitung) – Inspiration für diese Plattform. (Fotos: Lena Uphoff / Martin Löffler)

Inwiefern haben die drei Wochen etwas an blinden Flecken geändert?
Buhrfeind: Weil Dominique hier war, hat sich die Ost-Perspektive in der Redaktion verstetigt und verfestigt. Es mag sein, dass weder drei Tage noch drei Wochen reichen. Vielleicht bin ich noch etwas misstrauischer meinen eigenen Eindrücken gegenüber geworden und auch jenen, die Kollegen mir in Geschichten präsentieren.
Bielmeier: In Meissen ist das kein Thema. Mit den gesamtdeutschen Geschichten ist die westdeutsche Sicht automatisch im Blatt.

Frau Bielmeier, wie erlebten Sie die drei Wochen?
Bielmeier:
Mir erlaubte der Tausch vor allem einen Einblick in andere Arbeitsmethoden. Eine Dokumentationsabteilung wie bei “Chrismon” können wir uns bei der Lokalzeitung leider nicht leisten. Bei “Chrismon” hat man mich als Quoten-Ossi in der Redaktion angenommen. Ich hatte das Gefühl, es macht ganz viel aus, dass ich da bin, um den Blick aus dem Osten im Blatt zu haben.

Wie zum Beispiel?
Bielmeier: In der Themenkonferenz tauchte der Vorschlag auf, gezielt ein Thema aus dem Osten zu bringen. Also führte ich ein Interview über eine Studie, die feststellte, dass es nun erstmals mehr Umzüge von West nach Ost gab.

“Gezielt etwas aus dem Osten bringen” – das klingt als sei das sehr exotisch. Finden Sie das 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht etwa kurios, Frau Buhrfeind?
Buhrfeind: Eigentlich finde ich das kurios, ja. Aber wenn man jemand Neues in der Redaktion ist, ist man doch immer daran interessiert, welche Perspektiven derjenige mitbringt. Dieser Blickwechsel betraf in unserem Fall ja auch Kleinstadt/Großstadt, Tageszeitung/Magazin. Ich halte den Ost/West-Fokus deshalb immer noch für ein bisschen überbewertet. In Meißen kam ich manchmal beim Rauchen draußen mit dem Volontär ins Gespräch – aber eben über Unterschiede zwischen Bayern und Sachsen, nicht zwischen Ost und West. Ich weiß auch nicht, was eigentlich ein Wessi oder ein Ossi ist. Jemand, der in Dresden geboren ist, aber in London studiert hat, ist für mich genauso ein Wessi wie ich. Da sind Dominique und ich nicht einer Meinung.
Bielmeier: Im Osten hat es eben einen anderen Stellenwert, wann jemand ein Ossi ist und wann nicht.

Frau Buhrfeind, Sie sagen also, den Ost/West-Unterschied gibt es nicht – trotzdem wollten Sie den Perspektivwechsel. Wie passt das zusammen?
Buhrfeind: Eine Haltung entwickelt sich. Nach drei Tagen Meißen dachte ich: “Ach, vielleicht ist der Unterschied ja doch nicht so groß”.

Fest steht, dass es in überregionalen Redaktionen weniger ostdeutsche Kolleg*innen als westdeutsche gibt. Inwiefern halten Sie das für ein Problem?
Buhrfeind: Ob es ein Problem ist, weiß ich nicht. Ich halte es jedenfalls nicht für leicht änderbar. Als “Chrismon” vor 15 Jahren noch in Hamburg residierte, gab es dort eben viele Hamburger Journalisten – inzwischen sind es viele Frankfurter. Mobilität und Flexibilität kann man schwer verordnen. Außerdem werden inzwsichen wenige Journalisten neu eingestellt. Da ist es schwer, gezielt nach jemandem zu suchen, der türkischstämmig oder ostdeutsch oder Frau ist. Und ehrlich gesagt gibt es auch nicht so viele, die nach Frankfurt wollen.
Bielmeier: Es ist ein Problem, wenn dadurch eine Perspektive auf den Osten und die neuen Bundesländer untergeht. Weil es niemanden gibt, der diese Erfahrungen mitbringt. Auch wenn weniger eingestellt, werden: Vielleicht kann man das auffangen, indem man gezielt freie Journalisten aus den neuen Bundesländern sucht.

Es gibt Plädoyers für eine Ost-Quote, im Mai gibt es auch eine Branchenkonferenz auf den Medientagen Mitteldeutschland zum Thema (verlinkt: Video der Diskussion mit MDR-Intendantin Karole Wille, Zeit-Autorin Jana Hensel, Focus-CR Robert Schneider, MP Michael Kretschmer). Ist das nötig?
Bielmeier: Ich finde schon. Vor allem, wenn man sich ostdeutsche Medienhäuser anschaut – sogar dort sind wenige Ostdeutsche in den Führungsetagen. Da kann man sich schon fragen, wie das kommt. Da kann man sich schon fragen, ob eine Quote nicht wenigstens mittelfristig helfen würde, Strukturen aufzubrechen.
Buhrfeind: Ist Euer Chefredakteur in Deinen Augen ein Ossi oder ein Wessi?
Bielmeier: Herr Vetterick ist von der Herkunft Ossi.
Buhrfeind: Also ist Geburt entscheidend?
Bielmeier: Vielleicht reicht es irgendwann aus, den Blick auf die Biographie der Menschen weiter zu fassen. Jemand, der eine Weile im Osten gelebt hat, hat auch einen anderen Blick. Aber jemand, der in Bonn geboren und in Karlsruhe gelebt hat, wird nicht auf gleiche Weise auf den Osten schauen können.

Das sagt:
Uwe Vetterick,
Chefredakteur “Sächsische Zeitung”

“Ich war sofort angetan von der Idee Arbeitsplatztausch. Zumeist kommen Kollegen aus dem Westen zu uns in den Osten, wenn etwas passiert ist, in der Regel nichts Gutes. Was sie schreiben, stimmt natürlich. Ist aber eben nur ein Ausschnitt des Bildes. Ein kleiner und zumeist negativer. Dass jemand im Westen dies so spürt wie Ursula Ott und einmal die ungeschriebenen Geschichten erzählen will, hat mich überrascht.
Zugleich gilt natürlich: Es ist traurig, dass dies 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer so ist. Das sagt einer, der gleich nach dem Mauerfall in den Westen gegangen ist, dort volontiert und gearbeitet hat, glücklich in einer Ost-West-Ehe lebt.

Vielleicht ist der Schlüssel das Kleine, das Persönliche, da verstehen wir einander. Wie bei unserem Projekt. Beide haben profitiert: Unsere Lokalredakteurin Dominique Bielmeier ist in Frankfurt einige Wochen in nationalen Magazinjournalismus eingetaucht, Anne Buhrfeind hat in Meißen mit ihrem Blick Geschichten geschrieben, die uns so nicht gelungen wären. Schön, wenn dieser erste Austausch ein Anfang wär‘.”

Das sagt:
Ursula Ott,
Chefredakteurin “Chrismon“

„Uns ist in den vergangenen Monaten immer wieder aufgefallen, dass uns die Ostperspektive im Blatt fehlt. Deswegen war es mir wichtig, dass unsere Redakteure und ich selber ihren Horizont erweitern. Das Austausch-Projekt hat das geschafft. Wir wissen, dass wir bei der Recherche eine Runde mehr drehen müssen, etwa um dezidiert Experten aus Ostdeutschland im Blatt zu haben und nicht nur die üblichen Männer aus Bielefeld oder Hamburg. Außerdem wollen wir mehr Positiv-Geschichten aus dem Osten bringen, weil wir merken, dass wir manchmal nicht differenziert genug berichten. Ich als Chefredakteurin bemühe mich schon aktiv, mehr Frauen im Heft zu haben – und möchte nun ein ähnliches Bewusstsein für Ost-Themen und –Köpfe schaffen.

Die neue Perspektive, die Dominique Bielmeier bei uns eingebracht hat, war ein Learning für uns. Und ich war beruhigt über all die Gemeinsamkeiten, etwa als ich merkte, sie liest die gleichen Bücher wie wir. Wir hoffen, dass der Austausch weitergeht. Mit Dominique Bielmeier ist schon vereinbart, dass sie uns weiter Themen anbietet.”



Eine These ist, das Misstrauen vieler Ostdeutscher den Medien sei eine Folge davon, dass sie sich in den Texten und Sendungen nicht mitgemeint fühlen. Was halten Sie davon?
Bielmeier: Ich kann es total nachvollziehen. Ich habe vorhin in die Suchmasken bei “Zeit” und “Spiegel Online” mal “Sachsen” eingegeben. Als Ergebnis gab es nur Texte über AfD und Rechtsextremismus und anderes Negatives. Die Leipziger Buchmesse war in den letzten Wochen und Monaten der einzige Anlass, positiv über Sachsen zu berichten. Wenn Menschen, die hier leben, in einer Gegend, die für sie selbst so vielfältig ist, immer nur mit negativen Schlagzeilen konfrontiert sind, führt das ganz sicher auch zu Medienverdrossenheit.

Können Sie das verstehen, Frau Buhrfeind?
Buhrfeind: Nicht so wirklich. Ich glaube, dass es auch hier viele gibt, die sich nicht mitgemeint fühlen – die Verdrossenheit ist ja nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. Und vielleicht sind auch die Niedersachsen total unterrepräsentiert.

Unterrepräsentiertsein ist das eine – ein stereotypes Image das andere.
Buhrfeind: Dieses Image liegt vielleicht auch daran, dass wir alle dazu neigen, immer mehr zuzuspitzen und Klischees zu bedienen. Als Mittel dagegen war der Austausch eine sehr gute Idee. Das sollten andere auch machen. Wir bei “Chrismon” und der “Sächsischen Zeitung” müssen daraus aber nun keine Serie machen.
Bielmeier: Ich will nicht bestreiten, dass es keinen Grund für Berichterstattung über AfD oder Rechtsextremismus in Sachsen gibt. Es geht mir allerdings darum, dass diese Themen nun automatisch mit dem Bundesland verbunden werden: Sagt jemand Sachsen, denkt sofort jeder AfD und Rechtsextremismus. Aber auch bei Texten über ein Ereignis, das länger als die Wiedervereinigung zurückliegt, werden oft Dinge erzählt, die nur im Westen so stattfanden. Ich als ostdeutsche Leserin denke dann – vielleicht nur unterbewusst: Dieser Text blendet meine eigene Vergangenheit aus, vielleicht meint er nicht mich.

Zum Beispiel?
Bielmeier: Vor ein paar Tagen habe ich einen Text über die Impfmüdigkeit im Landkreis Meißen geschrieben und recherchierte, dass es in der DDR die ersten Masernimpfungen 1970 gab – und erst 1972 in der BRD. Und ich habe mich gleich gefragt, ob in überregionalen Medien nur die BRD-Jahreszahl genommen worden wäre.
Buhrfeind: Ist das denn so wichtig? Ich kann mich darüber nicht so aufregen. Es gibt momentan einfach aktuelle Themen, die wichtiger sind.

Wichtiger als?
Buhrfeind: Als diese korrekte Einordnung. Ob das jetzt 1972 oder 1970 ist, ist doch egal.
Bielmeier: Aber wenn das überregionale Medium darüber schreibt als würden sie die Realität von Gesamtdeutschland abbilden und ich als ostdeutscher Leser aus dem Text rauskomme und denke: Moment mal, in der DDR war das anders – dann stört das.

Wenn andere Kolleg*innen auch tauschen wollen, was würden Sie empfehlen?
Bielmeier: Bei uns war es ganz niedrigschwellig: Es braucht nur zwei Redaktionen, die sich darauf einlassen. Ich habe viele Anfragen von Kollegen bekommen, die Feuer und Flamme dafür wären.

(Das Doppelinterview erschien zuerst in „Medium Magazin“ 02/2019)