Der erste Tausch: SäZ x Chrismon

Zwei Redakteurinnen, zwei Perspektiven: Anne Buhrfeind von „Chrismon“ und Dominique Bielmeier von der „Sächsischen Zeitung“ machten im Februar 2019 einen Ost/West-Austausch (und bloggen seither hier darüber). Damit fing alles an: Es war der erste Ost/West-Arbeitsplatztausch – und nachdem ich die beiden fürs „Medium Magazin“ interviewt hatte, war mir klar, diese Chance sollen auch andere haben, eine Tauschplattform muss her.

Denn genau das war es: ganz niedrigschwellig, unkompliziert, eine fast spontane Idee der beiden Chefredakteur:innen Uwe Vetterick (SäZ) und Ursula Ott (Chrismon). Ein paar Wochen nach dem ersten Gedanken traten die Redakteurinnen die Reise an: die eine von Ost nach West, die andere von West nach Ost. Hier erzählen sie, wie’s war:

Sie haben drei Wochen lang ihre Arbeitsplätze gewechselt: Frau Buhrfeind war in der Lokalredaktion der “Sächsischen Zeitung” in Meißen, Frau Bielmeier in Frankfurt bei “Chrismon”. Was war der Auslöser für das Projekt?
Anne Buhrfeind: Wir hatten in „Chrismon“ eine Geschichte über 100 Jahre Frauenwahlrecht – und daraufhin schrieben uns zwei Leserinnen empört, dass die DDR nicht darin vorkäme. Das erzählte unsere Chefredakteurin Ursula Ott bei einer Verstanstaltung dem Chefredakteur der „Sächsischen Zeitung“ Uwe Vetterick. Darauf entschieden sie, einen „Schüleraustausch“ zu organisieren. Das war im November. Im Februar ging es los, für drei Wochen. Ich glaube, beide waren überrascht, dass es so schnell klappte.

Wie reagierten Sie auf die Briefe?
Buhrfeind: Wir waren überrascht, dass uns das nicht selbst aufgefallen war. Wir sind danach zwar zur Tagesordnung übergegangen, aber dieser Fall war ein Indiz, dass wir die Geschichte des Ostens, der DDR nicht im Blick haben. Auch weil wir im Westen viel mehr Leser haben als im Osten; auch weil die Kirche mehr Mitglieder im Westen als im Osten hat.

Frau Bielmeier, verstehen Sie die Reaktion der Leserinnen?
Dominique Bielmeier: Aus ostdeutscher Sicht schon, ja. Es geht mir und auch meinen Kollegen häufig so, dass wir bei Texten überregionaler Medien das Gefühl bekommen, der Osten ist gar nicht mitgedacht.

Die Erst-Tauscherinnen Anne Buhrfeind (Chrismon) und Dominique Bielmeier (Sächsische Zeitung) – Inspiration für diese Plattform. (Fotos: Lena Uphoff / Martin Löffler)

Inwiefern haben die drei Wochen etwas an blinden Flecken geändert?
Buhrfeind: Weil Dominique hier war, hat sich die Ost-Perspektive in der Redaktion verstetigt und verfestigt. Es mag sein, dass weder drei Tage noch drei Wochen reichen. Vielleicht bin ich noch etwas misstrauischer meinen eigenen Eindrücken gegenüber geworden und auch jenen, die Kollegen mir in Geschichten präsentieren.
Bielmeier: In Meissen ist das kein Thema. Mit den gesamtdeutschen Geschichten ist die westdeutsche Sicht automatisch im Blatt.

Frau Bielmeier, wie erlebten Sie die drei Wochen?
Bielmeier:
Mir erlaubte der Tausch vor allem einen Einblick in andere Arbeitsmethoden. Eine Dokumentationsabteilung wie bei “Chrismon” können wir uns bei der Lokalzeitung leider nicht leisten. Bei “Chrismon” hat man mich als Quoten-Ossi in der Redaktion angenommen. Ich hatte das Gefühl, es macht ganz viel aus, dass ich da bin, um den Blick aus dem Osten im Blatt zu haben.

Wie zum Beispiel?
Bielmeier: In der Themenkonferenz tauchte der Vorschlag auf, gezielt ein Thema aus dem Osten zu bringen. Also führte ich ein Interview über eine Studie, die feststellte, dass es nun erstmals mehr Umzüge von West nach Ost gab.

“Gezielt etwas aus dem Osten bringen” – das klingt als sei das sehr exotisch. Finden Sie das 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht etwa kurios, Frau Buhrfeind?
Buhrfeind: Eigentlich finde ich das kurios, ja. Aber wenn man jemand Neues in der Redaktion ist, ist man doch immer daran interessiert, welche Perspektiven derjenige mitbringt. Dieser Blickwechsel betraf in unserem Fall ja auch Kleinstadt/Großstadt, Tageszeitung/Magazin. Ich halte den Ost/West-Fokus deshalb immer noch für ein bisschen überbewertet. In Meißen kam ich manchmal beim Rauchen draußen mit dem Volontär ins Gespräch – aber eben über Unterschiede zwischen Bayern und Sachsen, nicht zwischen Ost und West. Ich weiß auch nicht, was eigentlich ein Wessi oder ein Ossi ist. Jemand, der in Dresden geboren ist, aber in London studiert hat, ist für mich genauso ein Wessi wie ich. Da sind Dominique und ich nicht einer Meinung.
Bielmeier: Im Osten hat es eben einen anderen Stellenwert, wann jemand ein Ossi ist und wann nicht.

Frau Buhrfeind, Sie sagen also, den Ost/West-Unterschied gibt es nicht – trotzdem wollten Sie den Perspektivwechsel. Wie passt das zusammen?
Buhrfeind: Eine Haltung entwickelt sich. Nach drei Tagen Meißen dachte ich: “Ach, vielleicht ist der Unterschied ja doch nicht so groß”.

Fest steht, dass es in überregionalen Redaktionen weniger ostdeutsche Kolleg*innen als westdeutsche gibt. Inwiefern halten Sie das für ein Problem?
Buhrfeind: Ob es ein Problem ist, weiß ich nicht. Ich halte es jedenfalls nicht für leicht änderbar. Als “Chrismon” vor 15 Jahren noch in Hamburg residierte, gab es dort eben viele Hamburger Journalisten – inzwischen sind es viele Frankfurter. Mobilität und Flexibilität kann man schwer verordnen. Außerdem werden inzwsichen wenige Journalisten neu eingestellt. Da ist es schwer, gezielt nach jemandem zu suchen, der türkischstämmig oder ostdeutsch oder Frau ist. Und ehrlich gesagt gibt es auch nicht so viele, die nach Frankfurt wollen.
Bielmeier: Es ist ein Problem, wenn dadurch eine Perspektive auf den Osten und die neuen Bundesländer untergeht. Weil es niemanden gibt, der diese Erfahrungen mitbringt. Auch wenn weniger eingestellt, werden: Vielleicht kann man das auffangen, indem man gezielt freie Journalisten aus den neuen Bundesländern sucht.

Es gibt Plädoyers für eine Ost-Quote, im Mai gibt es auch eine Branchenkonferenz auf den Medientagen Mitteldeutschland zum Thema (verlinkt: Video der Diskussion mit MDR-Intendantin Karole Wille, Zeit-Autorin Jana Hensel, Focus-CR Robert Schneider, MP Michael Kretschmer). Ist das nötig?
Bielmeier: Ich finde schon. Vor allem, wenn man sich ostdeutsche Medienhäuser anschaut – sogar dort sind wenige Ostdeutsche in den Führungsetagen. Da kann man sich schon fragen, wie das kommt. Da kann man sich schon fragen, ob eine Quote nicht wenigstens mittelfristig helfen würde, Strukturen aufzubrechen.
Buhrfeind: Ist Euer Chefredakteur in Deinen Augen ein Ossi oder ein Wessi?
Bielmeier: Herr Vetterick ist von der Herkunft Ossi.
Buhrfeind: Also ist Geburt entscheidend?
Bielmeier: Vielleicht reicht es irgendwann aus, den Blick auf die Biographie der Menschen weiter zu fassen. Jemand, der eine Weile im Osten gelebt hat, hat auch einen anderen Blick. Aber jemand, der in Bonn geboren und in Karlsruhe gelebt hat, wird nicht auf gleiche Weise auf den Osten schauen können.

Das sagt:
Uwe Vetterick,
Chefredakteur “Sächsische Zeitung”

“Ich war sofort angetan von der Idee Arbeitsplatztausch. Zumeist kommen Kollegen aus dem Westen zu uns in den Osten, wenn etwas passiert ist, in der Regel nichts Gutes. Was sie schreiben, stimmt natürlich. Ist aber eben nur ein Ausschnitt des Bildes. Ein kleiner und zumeist negativer. Dass jemand im Westen dies so spürt wie Ursula Ott und einmal die ungeschriebenen Geschichten erzählen will, hat mich überrascht.
Zugleich gilt natürlich: Es ist traurig, dass dies 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer so ist. Das sagt einer, der gleich nach dem Mauerfall in den Westen gegangen ist, dort volontiert und gearbeitet hat, glücklich in einer Ost-West-Ehe lebt.

Vielleicht ist der Schlüssel das Kleine, das Persönliche, da verstehen wir einander. Wie bei unserem Projekt. Beide haben profitiert: Unsere Lokalredakteurin Dominique Bielmeier ist in Frankfurt einige Wochen in nationalen Magazinjournalismus eingetaucht, Anne Buhrfeind hat in Meißen mit ihrem Blick Geschichten geschrieben, die uns so nicht gelungen wären. Schön, wenn dieser erste Austausch ein Anfang wär‘.”

Das sagt:
Ursula Ott,
Chefredakteurin “Chrismon“

„Uns ist in den vergangenen Monaten immer wieder aufgefallen, dass uns die Ostperspektive im Blatt fehlt. Deswegen war es mir wichtig, dass unsere Redakteure und ich selber ihren Horizont erweitern. Das Austausch-Projekt hat das geschafft. Wir wissen, dass wir bei der Recherche eine Runde mehr drehen müssen, etwa um dezidiert Experten aus Ostdeutschland im Blatt zu haben und nicht nur die üblichen Männer aus Bielefeld oder Hamburg. Außerdem wollen wir mehr Positiv-Geschichten aus dem Osten bringen, weil wir merken, dass wir manchmal nicht differenziert genug berichten. Ich als Chefredakteurin bemühe mich schon aktiv, mehr Frauen im Heft zu haben – und möchte nun ein ähnliches Bewusstsein für Ost-Themen und –Köpfe schaffen.

Die neue Perspektive, die Dominique Bielmeier bei uns eingebracht hat, war ein Learning für uns. Und ich war beruhigt über all die Gemeinsamkeiten, etwa als ich merkte, sie liest die gleichen Bücher wie wir. Wir hoffen, dass der Austausch weitergeht. Mit Dominique Bielmeier ist schon vereinbart, dass sie uns weiter Themen anbietet.”



Eine These ist, das Misstrauen vieler Ostdeutscher den Medien sei eine Folge davon, dass sie sich in den Texten und Sendungen nicht mitgemeint fühlen. Was halten Sie davon?
Bielmeier: Ich kann es total nachvollziehen. Ich habe vorhin in die Suchmasken bei “Zeit” und “Spiegel Online” mal “Sachsen” eingegeben. Als Ergebnis gab es nur Texte über AfD und Rechtsextremismus und anderes Negatives. Die Leipziger Buchmesse war in den letzten Wochen und Monaten der einzige Anlass, positiv über Sachsen zu berichten. Wenn Menschen, die hier leben, in einer Gegend, die für sie selbst so vielfältig ist, immer nur mit negativen Schlagzeilen konfrontiert sind, führt das ganz sicher auch zu Medienverdrossenheit.

Können Sie das verstehen, Frau Buhrfeind?
Buhrfeind: Nicht so wirklich. Ich glaube, dass es auch hier viele gibt, die sich nicht mitgemeint fühlen – die Verdrossenheit ist ja nicht nur ein ostdeutsches Phänomen. Und vielleicht sind auch die Niedersachsen total unterrepräsentiert.

Unterrepräsentiertsein ist das eine – ein stereotypes Image das andere.
Buhrfeind: Dieses Image liegt vielleicht auch daran, dass wir alle dazu neigen, immer mehr zuzuspitzen und Klischees zu bedienen. Als Mittel dagegen war der Austausch eine sehr gute Idee. Das sollten andere auch machen. Wir bei “Chrismon” und der “Sächsischen Zeitung” müssen daraus aber nun keine Serie machen.
Bielmeier: Ich will nicht bestreiten, dass es keinen Grund für Berichterstattung über AfD oder Rechtsextremismus in Sachsen gibt. Es geht mir allerdings darum, dass diese Themen nun automatisch mit dem Bundesland verbunden werden: Sagt jemand Sachsen, denkt sofort jeder AfD und Rechtsextremismus. Aber auch bei Texten über ein Ereignis, das länger als die Wiedervereinigung zurückliegt, werden oft Dinge erzählt, die nur im Westen so stattfanden. Ich als ostdeutsche Leserin denke dann – vielleicht nur unterbewusst: Dieser Text blendet meine eigene Vergangenheit aus, vielleicht meint er nicht mich.

Zum Beispiel?
Bielmeier: Vor ein paar Tagen habe ich einen Text über die Impfmüdigkeit im Landkreis Meißen geschrieben und recherchierte, dass es in der DDR die ersten Masernimpfungen 1970 gab – und erst 1972 in der BRD. Und ich habe mich gleich gefragt, ob in überregionalen Medien nur die BRD-Jahreszahl genommen worden wäre.
Buhrfeind: Ist das denn so wichtig? Ich kann mich darüber nicht so aufregen. Es gibt momentan einfach aktuelle Themen, die wichtiger sind.

Wichtiger als?
Buhrfeind: Als diese korrekte Einordnung. Ob das jetzt 1972 oder 1970 ist, ist doch egal.
Bielmeier: Aber wenn das überregionale Medium darüber schreibt als würden sie die Realität von Gesamtdeutschland abbilden und ich als ostdeutscher Leser aus dem Text rauskomme und denke: Moment mal, in der DDR war das anders – dann stört das.

Wenn andere Kolleg*innen auch tauschen wollen, was würden Sie empfehlen?
Bielmeier: Bei uns war es ganz niedrigschwellig: Es braucht nur zwei Redaktionen, die sich darauf einlassen. Ich habe viele Anfragen von Kollegen bekommen, die Feuer und Flamme dafür wären.

(Das Doppelinterview erschien zuerst in „Medium Magazin“ 02/2019)